Man sieht ein Baby, was auf dem Arm schläft

© pixabay

Müssen Kinder schlafen lernen?

01.02.2024

Warum wir auch die Schlafentwicklung unserer Kinder gelassen begleiten dürfen

Den meisten Entwicklungsschritten blicken wir als Eltern und Großeltern sehr gelassen und eher freudig entgegen. Es ist fast schon egal, ob das Baby bereits mit zehn Monaten oder doch erst mit 14 Monaten anfängt, die Welt auf eigenen Füßen zu erkunden – ganz nach dem Motto: „Gras wächst auch nicht schneller, wenn man dran zieht.“

Das Thema Babyschlaf scheint hier allerdings die Ausnahme dieser Regel darzustellen und deutlich brisanter zu sein: Beim Schlafen, allen voran beim alleine ein- und durchschlafen hört häufig der Spaß auf, und der (gesellschaftliche) Erwartungsdruck fängt an. Nicht zuletzt ein spannendes Thema, da das Schlafverhalten unserer Kinder auch unseren Schlaf beeinflusst.

Doch woher kommt dieser Anspruch?
Tatsächlich sind viele alte Mythen noch über Jahrzehnte hinweg weiter getragene Propaganda aus dem Buch von Johanna Haarer „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, welches zur damaligen Zeit an alle Mütter herausgeben wurde. Ziel dieses „Erziehungsratgebers“ des Dritten Reiches war es, die erste prägende Bindung der Sozialisierung nicht zum Elternteil in der frühen Kindheit zu schaffen, sondern diese den Kindern erst im Jugendalter in der Gemeinschaft zu teil werden zu lassen mit dem Ziel, sich dadurch loyale und beflissene Soldaten heranzuziehen.

Der heute zum Glück nicht mehr allzu weit verbreitete Irrglaube „Schreien stärkt die Lungen“ ist beispielsweise auf dieses Werk zurückzuführen, ebenso findet man in ihren Ausführungen zu den heutigen Einstellungen sehr konträre Empfehlungen, wie auszugsweise: „Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen“. Ähnliche Ansichten lassen sich auch in Bezug auf das Thema Schlaf herausarbeiten. Sie positioniert sich hier klar und fernab jeglicher bindungsförderten Ansicht: „Das Kind soll tags wie nachts in einem stillen Raum für sich sein […].“

Entspricht das der Realität?!
Unsere Gene sind noch auf das Überleben aus einer vergangenen Nomadenzeit ausgelegt, die gerade mal 10.000 Jahre her ist. Im Vergleich zur rasanten industriellen Entwicklung der letzten 200 Jahre, erscheint es doch logisch: Das Baby kommt mit den Genen auf die Welt, die es „schon immer“ benötigte, um zu überleben. Dabei sind 200 Jahre evolutionstechnisch als Wimpernschlag einzuordnen. Das Baby weiß also nicht, dass die Höhle wohl temperiert ist, die Herde nicht alleine weiterzieht und das Bedürfnis nach Sicherheit durch die Eltern nur ein Blick auf das Babyphone entfernt ist.

Innere und äußere Faktoren beeinflussen die Qualität des Schlafes. Äußere Faktoren sind beispielsweise die Lautstärke, die Temperatur, das Platzangebot und die Lichtverhältnisse. Bei Dunkelheit wird das auch als Müdemacher bekannte Hormon Melatonin ausgeschüttet, welches schlaffördernde Eigenschaften aufweist.

Sicherheit, Geborgenheit und eine entspannte Bezugsperson sind Faktoren, die den Schlafprozess von innen heraus positiv beeinflussen. Schlafen stellt für Kinder eine Trennungssituation dar. In einer Höhle ohne Körperkontakt oder die Nähe der Bezugsperson zu sein, minimierte die damaligen Überlebenschancen drastisch.

Warum sollten wir den Lernprozess des Schlafens positiv begleiten?
Unter Lernen versteht sich ein Prozess, der Fähigkeiten und Wissen anhäuft. Die Schlafentwicklung ist ebenso ein Prozess, sogar lebenslanger Prozess, der stetigem Wandel unterzogen ist. So unterscheidet sich der Schlaf von Säuglingen zu dem von Kindern, zu dem von Teenagern. Ältere Menschen klagen manchmal, dass sie jetzt, wo sie Zeit zum Schlafen hätten, keinen erholsamen Schlaf mehr finden – auch dies hat mit der Veränderung der Schlafentwicklung zu tun.

Was Kinder von uns als ihren Bezugspersonen zu Beginn dieses Prozesses lernen dürfen und sollten, ist Sicherheit und Geborgenheit. Die Sicherheit, vertrauensvoll ein- und weiterzuschlafen. Die Geborgenheit, dass auf ihre Bedürfnisse nach Nähe liebevoll reagiert wird und im Gesamtbild diese Erfahrungen durch positive Wiederholungen selbst zu sammeln und sie zu einem Prozess zu verknüpfen.

So gehören Ansätze, die ein Individuum in ein stigmatisiertes Raster zwängen und nach einem festgelegten Plan schreien lassen, der Vergangenheit an. Jüngste Erkenntnisse aus der Gehirnforschung zeigen, wie das Verstummen der Kinder durch diese Methoden zu werten ist: Der vermeintliche „Lernerfolg“ gleicht in Wahrheit einer stummen Resignation, da die Kinder kognitiv noch nicht in der Lage sind, eigenständig behavioristische Rückschlüsse auf ihr Verhalten zu ziehen. Beispielsweise geht man erst rund um das 4. Lebensjahr davon aus, dass Kinder kognitiv dazu in der Lage sind, ein bewusst manipulatives Verhalten wie zum Beispiel lügen zu zeigen.

Müssen Kinder schlafen lernen?
Nein, Kinder müssen nicht schlafen lernen. Was Kinder lernen dürfen ist vertrauensvoll ein- und weiterzuschlafen. Haben Sie keine Angst vor dem Verwöhnen: eine altersgerechte Schlafbegleitung und (Ein-)Schlafen mit Körperkontakt ist kein Verwöhnen, sondern befriedigt existenzielle Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit.

Was im Umkehrschluss nicht bedeuten soll, dass eine Familie unter den Besonderheiten des Kinderschlafes zu leiden hat. Es gibt Ansätze und Stellschrauben, anhand der das Schlafverhalten der Kinder bindungsorientiert beeinflusst werden kann, wenn es für die Familie eine Notwendigkeit darstellt.

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Lina Wunderwald

Autorin:
Lina Wunderwald, selbst seit 2021 Mutter, ist bindungsorientierte Familienbegleiterin, spezialisiert auf die Themen Stillen, Schlafen, Beikost und Fachkraft für Formula ernährte Säuglinge sowie Trageberaterin. In der Elternschule des Klinikums Hanau bietet sie monatlich einen Kurs zum Thema „Baby- und Kleinkindschlaf – das natürliche Schlafverhalten verstehen“ an.
www.familienbegleitung-wunderwald.de

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